Warum es manchen Grundschulkindern schwerfällt, sich zu konzentrieren – Ein Blick auf Konzentration, Entwicklung, Zeit und Gehirnprozesse
- Nini Janni
- 14. Feb.
- 6 Min. Lesezeit
Maria Montessori, eine der bekanntesten Pädagoginnen des 20. Jahrhunderts, sprach von einer natürlichen Schwankung in der Entwicklung von Kindern: „plus/minus zwei Jahre“. Das bedeutet, dass Kinder in einer ersten Klasse auf sehr unterschiedlichen Entwicklungsstufen sein können. Während manche Erstklässler bereits wie kleine Erwachsene wirken, haben andere noch große Schwierigkeiten mit Struktur und Konzentration.
Was bedeutet das für die Schule?
Ein sechsjähriges Kind kann entwicklungsbedingt eher auf dem Stand eines Vierjährigen oder eines Achtjährigen sein.
Manche Kinder brauchen länger, um sich an den Schulalltag zu gewöhnen, während andere sofort bereit sind.
Eine „späte“ Entwicklung bedeutet nicht, dass das Kind weniger intelligent ist – es braucht einfach mehr Zeit.
Zur Einschulung treffen Kinder mit unterschiedlichen Entwicklungsstand aufeinander. Manche können sich gut konzentrieren, andere Kinder möchten noch spielen und der Übergang von Kinder zu Schule fällt ihnen sehr schwer.

Rudolf Steiner: Entwicklungsfenster statt starre Vorgaben
Rudolf Steiner, der Begründer der Waldorfpädagogik, sprach von sogenannten „Entwicklungsfenstern“. Seine Theorie besagt, dass Kinder nicht alle zur gleichen Zeit für bestimmte Lerninhalte bereit sind.
Was bedeutet das?
Konzentrationsfähigkeit entwickelt sich nicht durch Druck, sondern durch Reifeprozesse.
Kinder, die sich nicht konzentrieren können, brauchen nicht zwingend eine Therapie – oft brauchen sie einfach mehr Zeit und andere Reize.
Frühzeitige Diagnosen und Medikationen könnten eine natürliche Entwicklung sogar stören.
Aus diesen Gründen gibt es an Waldorfschulen keine Noten bis kurz vor dem Abschluss, die Kinder können nicht sitzen bleiben und bleiben in ihrer Altersgruppe. Sie sollen sich in ihrem Jahrgang entwickeln können. In der Waldorfpädagogik ist es durchaus so, das Kinder in der dreitten Klasse flüssig lesen, andere Kinder vielleicht auch erst in der vierten Klasse.
Konzentration – Wie sie im Gehirn entsteht und warum manche Kinder Schwierigkeiten damit haben
Konzentration ist ein komplexer Prozess, der im Gehirn durch das Zusammenspiel verschiedener Areale und Botenstoffe gesteuert wird. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der präfrontale Kortex, das sogenannte „Steuerzentrum“ des Gehirns. Er ist für die gezielte Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und das Filtern von Reizen zuständig.
Was passiert im Gehirn bei Konzentration?
Damit sich ein Kind konzentrieren kann, müssen mehrere Mechanismen funktionieren:
Der präfrontale Kortex dämpft störende Reize und lenkt den Fokus auf die aktuelle Aufgabe.
Dopamin und Noradrenalin, zwei wichtige Neurotransmitter, sorgen für Motivation und die Fähigkeit, Reize angemessen zu verarbeiten.
Das exekutive System hilft dabei, Handlungen zu planen, sich an Regeln zu halten und Ablenkungen zu ignorieren.
Warum haben manche Kinder mehr Schwierigkeiten mit Konzentration?
Es gibt viele Gründe, warum einige Kinder sich leichter konzentrieren können als andere:
Natürliche Entwicklungsunterschiede:
Manche Kinder haben einen noch unreifen präfrontalen Kortex und brauchen mehr Zeit, um ihre Konzentrationsfähigkeit zu entwickeln.
Überstimulation durch Umweltfaktoren:
Ein Übermaß an Reizen (digitale Medien, laute Umgebungen, Stress) kann das Gehirn überfordern und die Aufmerksamkeitsspanne verringern.
Fehlende Bewegung:
Bewegung hilft, das Dopaminlevel zu regulieren und fördert die Konzentrationsfähigkeit. Kinder, die sich wenig bewegen, haben oft größere Schwierigkeiten, sich länger zu fokussieren.
Unpassende Lernmethoden:
Nicht jedes Kind lernt gleich. Manche Kinder profitieren mehr von visuellen oder bewegungsbasierten Lernmethoden als von reinem Zuhören und Stillsitzen.
Händigkeit
Kinder, die bspw. Linkshänder sind aber die rechte Hand nutzen, können massive Konzentrationsverluste haben. Das gilt auch für späte Linkshänder.
AD(H)S: Krankheitsbild oder Anpassung an die Umwelt?
ADHS wird oft als neurobiologische Störung beschrieben, bei der die Konzentrationsfähigkeit durch ein Ungleichgewicht der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin beeinträchtigt ist. Diese Kinder zeigen oft Unruhe, Impulsivität und Schwierigkeiten, sich längere Zeit auf eine Sache zu fokussieren.

Der Hirnforscher Gerald Hüther stellt jedoch infrage, ob ADHS tatsächlich eine Krankheit im klassischen Sinne ist oder ob viele betroffene Kinder einfach nicht gut in unser gesellschaftliches System passen. Er argumentiert, dass ADHS häufig eine Reaktion auf die Umwelt ist – also eine Art Überlebensstrategie in einer reizüberfluteten und oft wenig kindgerechten Gesellschaft.
AD(H)S: Was passiert im Gehirn?
1. Das Dopamin-Ungleichgewicht
Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass Kinder mit AD(H)S oft ein ungleichmäßiges Dopamin-Level im Gehirn haben. Dopamin ist ein Neurotransmitter, der für Motivation und Aufmerksamkeit zuständig ist.
Zu wenig Dopamin: Das Kind fühlt sich „unterstimuliert“, träumt vor sich hin und kann sich schwer auf eine Sache konzentrieren.
Zu viel Dopamin auf einmal: Das Kind ist impulsiv, hektisch und kann Reize schwer filtern.
2. Der präfrontale Kortex – Das „Steuerzentrum“ im Gehirn
Der präfrontale Kortex ist der Bereich im Gehirn, der für Planung, Impulskontrolle und Aufmerksamkeit zuständig ist. Bei vielen AD(H)S-Kindern arbeitet dieser Bereich ineffizient – sie können sich schwer auf eine Sache fokussieren, weil das Gehirn sie ständig mit neuen Reizen versorgt.
Aber:Die Gehirnentwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen! Der präfrontale Kortex reift bis ins junge Erwachsenenalter. Viele Symptome, die als AD(H)S gewertet werden, sind in Wahrheit eine normale Entwicklungsverzögerung. Besonders Gerald Hüther sind das Thema sehr kritisch und sagt: "AD(H)S ist keine Krankheit, sondern eine gesellschaftliche Frage."
Er kritisiert die gängige Diagnosepraxis von AD(H)S. Seiner Meinung nach ist AD(H)S keine echte Krankheit, sondern eine Reaktion auf die Umwelt.
Hüthers Argumente:
Kinder sind nicht „krank“, sondern passen oft nicht in das System.
Die heutige Schule verlangt von Kindern langes Stillsitzen und Konzentration auf abstrakte Aufgaben – etwas, das für viele Sechsjährige nicht natürlich ist.
Bewegung ist essenziell für die Hirnentwicklung.
Kinder, die sich viel bewegen, aktiv spielen und in der Natur sind, entwickeln oft eine bessere Konzentrationsfähigkeit als jene, die vor Bildschirmen sitzen.
Medikamente wie Ritalin sind keine Lösung.
Medikamente unterdrücken Symptome, lösen aber nicht die Ursache.
Langfristig können Kinder lernen, sich besser zu konzentrieren, wenn sie spielerisch, in ihrem eigenen Tempo und mit passenden Reizen gefördert werden.
Allerdings ist hier eine Differenzierung wichtig:
Nicht jedes unruhige Kind hat ADHS. Entwicklungsbedingte Konzentrationsschwächen sind normal und verwachsen sich oft mit der Zeit.
Eltern sollten sich nicht vorschnell auf eine Diagnose verlassen, aber auch nicht völlig ablehnen. Eine seriöse Abklärung durch Experten kann helfen, herauszufinden, ob wirklich eine neurologische Störung vorliegt oder ob das Kind einfach mehr Bewegung, Ruhe oder einen anderen Lernansatz benötigt.
Das Umfeld spielt eine große Rolle. In einem starren, leistungsorientierten Schulsystem haben Kinder mit hoher Bewegungsfreude oder ganzheitlichem Denkstil oft größere Probleme – das bedeutet aber nicht automatisch, dass sie eine Störung haben.
Brauchen Kinder Therapie – oder einfach nur Zeit?
Viele Experten fordern mittlerweile einen entspannteren Umgang mit Konzentrationsproblemen. Statt vorschnell Therapien oder Medikamente einzusetzen, sollte man überlegen:
✅ Liegt wirklich ein Problem vor – oder ist das Kind einfach jünger in seiner Entwicklung?✅ Sind die Lernmethoden für das Kind passend? (Bewegung, visuelle Hilfen, kurze Lerneinheiten)
✅ Bekommen die Kinder genug Zeit, um sich zu entwickeln?
In Skandinavien beginnt die Schule oft erst mit sieben Jahren – und die Kinder haben trotzdem keinen Nachteil. Warum? Weil ihnen mehr Zeit für ihre natürliche Entwicklung gegeben wird.
An Waldorfschulen wird der Abschluss nach zwölf Jahren Schule gemacht. Sie haben somit zwei Jahre mehr Zeit und können mit weniger Druck lernen. Konzentrationsprobleme sind nicht immer ein Zeichen einer Krankheit, sondern oft Ausdruck individueller Entwicklungsunterschiede und Umweltfaktoren. Es lohnt sich, genau hinzuschauen und nicht nur das Verhalten des Kindes zu analysieren, sondern auch die Bedingungen, unter denen es lebt und lernt. Manchmal braucht ein Kind keine Therapie – sondern einfach mehr Zeit, eine angepasste Umgebung und eine Lernmethode, die zu seinem individuellen Gehirn passt.
Für weiterführende Informationen zum Thema Konzentration bei Grundschulkindern und die Diskussion um ADHS empfehle ich folgende Quellen:
Studie zur Konzentrationsentwicklung bei Kindern: Diese Untersuchung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zeigt, wie Kinder durch kreative Strategien Konzentrationsschwächen ausgleichen können.
Gerald Hüther über ADHS: In diesem Interview diskutiert der Neurobiologe Gerald Hüther seine Sichtweise auf ADHS und betont die Bedeutung von natürlichen Entwicklungsprozessen.
Kognitive Entwicklung bei 3- bis 8-Jährigen: Diese empirische Studie untersucht die Entwicklung der Konzentrationsleistung bei Kindern und den Zusammenhang mit verschiedenen Entwicklungsphasen.
ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung: Dieses Buch bietet eine kritische Auseinandersetzung mit der Diagnose und Behandlung von ADHS und plädiert für präventive Ansätze.
Hier sind einige empfehlenswerte Bücher zum Thema Konzentration, Entwicklungsunterschiede bei Kindern und ADHS:
"Neues vom Zappelphilipp: ADS verstehen, vorbeugen und behandeln" – Gerald Hüther & Helmut Bonney
"ADHS von A bis Z: Kompaktes Praxiswissen für Betroffene und Therapeuten" – Rudolf Kemmerich
"Jetzt reden wir! Diagnose AD(H)S und was die Kinder wirklich fühlen" – Udo Baer & Waltraut Barnowski-Geiser
"Therapieprogramm zur Steigerung von Organisationsfähigkeit, Konzentration und Impulskontrolle bei Kindern mit ADHS (THOKI-ADHS)" – Sonja Braun & Manfred Döpfner
"ADHS bei Kindern meistern: Alles, was du wissen musst, um dein Kind zu unterstützen"
"Lasst die Kinder einfach spielen! Warum freies Spielen so wichtig ist" – André Stern
"Kinder verstehen: Born to be wild – Wie die Evolution unsere Kinder prägt" – Herbert Renz-Polster
"Die kindliche Entwicklung verstehen: Warum jedes Kind sein eigenes Tempo hat" – Remo Largo
"Schulfähigkeit ist mehr als Stillsitzen – Entwicklungspsychologische Grundlagen für Eltern und Pädagogen" – Gabriele Haug-Schnabel
"Das Geheimnis glücklicher Kinder" – Steve Biddulph
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